Deutschland: Dichter, Denker, Dauerzweifler

Nov. 3, 2025 | Change Management, Innovation & Ideengenerierung, KI & Gesellschaft, Strategie & Führung | 0 Kommentare

Deutschland: Dichter, Denker, Dauerzweifler - und wie wir wieder Macher werden

Es war einmal ein Land, das die Welt erfand.
Autos, Computer, Röntgenapparate, Aspirin, MP3.
Ein Land, das Werkstätten in Wunderlabore verwandelte und aus Handwerk Hochtechnologie machte.
Ein Land, das seine größten Ideen nicht aus Zufall gebar, sondern aus Gründlichkeit.

Heute ist dieses Land immer noch klug - aber vorsichtig geworden.

Es zweifelt.
Es zweifelt an sich, an seinen Erfindern, an seinen Gründern, an seiner Zukunft.
Und während wir hierzulande prüfen, ob die neuen Ideen sicher sind, fliegen anderswo schon die Prototypen.

Was ist passiert?
Wann wurde aus der Werkbank ein Wartezimmer?
Und warum glauben wir nicht mehr daran, dass wir Zukunft machen können?

Vom Land der Ideen zum Land der Genehmigungen

Es gibt Gründer, die erzählen, dass sie in Deutschland mehr Zeit mit Formularen verbringen als mit ihrer Idee.
Eine Gewerbeanmeldung dauert Wochen, eine Betriebserlaubnis Monate, und wenn es richtig ernst wird, ruft die Datenschutzbeauftragte an.
In Berlin, wo einst der Spirit der Rebellion herrschte, werden Start-ups mittlerweile in Businessplänen erstickt.

Auch Fördergelder, die eigentlich eine Unterstützung für Innovationen und Unternehmensentwicklung sein sollen haben Antragslaufzeiten und Vorbedingungen, die für ein reales Startup zu lange sind. Dies habe ich selbt erlebt und es lässt den Gründer staunend stehen.

Die KfW schätzt, dass der bürokratische Aufwand für Gründer in Deutschland doppelt so hoch ist wie im europäischen Durchschnitt.
Was in anderen Ländern digital läuft, läuft hier analog – und zwar wörtlich.

Wir haben aus Kontrolle eine Kultur gemacht. Aber Kontrolle produziert keine Innovation, sie produziert Stillstand. Manchmal auch Kapitulation.

Wer ein Start-up gründet, braucht Mut - nicht Excel-Tabellen. Doch wir haben ein System geschaffen, in dem Vertrauen ersetzt wurde durch Nachweis.
Die Folge: Wir sind so sehr mit Prüfen beschäftigt, dass wir vergessen zu handeln.

Die verpassten Revolutionen

Schauen wir uns eine Liste von Beispielen an:

  • Lilium wollte Flugtaxis bauen - scheiterte an Kapital und Genehmigung.
  • Die deutsche Solarindustrie - einst Weltspitze – brach zusammen, als die Förderung auslief.
  • KUKA, Vorreiter in Robotik, wurde 2016 an China verkauft.

Und das MP3-Format?
Erfunden am Fraunhofer-Institut in Erlangen, lizenziert in den USA, dort vermarktet, dort monetarisiert. Die Welt hörte deutsche Technologie – aber nicht aus Deutschland.

Das Muster ist immer gleich:
Wir forschen, wir entwickeln, wir testen – und wenn es ernst wird, sind die anderen schneller.
McKinsey schätzt, dass deutsche Start-ups bis 2030 über zwei Billionen Euro an Wertschöpfung schaffen könnten, wenn sie die gleiche Kapitaldichte hätten wie US-Gründer.


Könnten.
Das Wort brennt wie ein Brandzeichen.

Der Zweifel als Identität

Die Zahlen sind eindeutig.
Nur 24% der Deutschen wollen lieber selbstständig als angestellt arbeiten (KfW 2024).
Fast die Hälfte nennt Angst vor dem Scheitern als Hauptgrund, nicht zu gründen (GEM Report 2023).

Wir sind ein Land der Angestellten, nicht der Abenteurer. Ein Land, in dem „Sicherheit“ über „Selbstbestimmung“ steht.
In dem Eltern ihren Kindern lieber zur Verbeamtung raten als zur Gründung.

Das ist kein Zufall. Es ist Kulturgeschichte. Wir haben gelernt, dass Sicherheit das höchste Gut ist.
Unsere Sozialsysteme sind darauf gebaut, unsere Schulen lehren Anpassung, nicht Unternehmertum.
Selbstständigkeit gilt als Risiko, nicht als Freiheit.

Aber das Paradoxe ist: In einer Welt, die sich täglich verändert, ist Stillstand das größte Risiko.
Zweifel ist kein Schutz mehr - er ist zur Falle geworden.

Das amerikanische Gegenmodell

In Kalifornien heißt es: „Fail fast, fail often.“ Scheitern ist dort kein Makel, sondern Milestone.
Wer zweimal bankrott war, gilt als erfahrener Gründer.

Warum?
Weil man dort gelernt hat, dass Fortschritt keine geraden Linien mag. Man probiert, verwirft, verbessert - und macht weiter.
Das ist keine Philosophie, das ist Praxis.

In den USA wird Kapital nicht gehütet, sondern gejagt. Es sucht Ideen. Und wenn eine Idee scheitert, sucht das Kapital einfach die nächste.

In Deutschland dagegen prüfen wir lieber, ob sich das Risiko rechnet. Und wenn es sich nicht sofort rechnet, lassen wir es bleiben.

Aber Ideen sind keine Maschinen.Sie laufen nicht, wenn man sie stehen lässt.

Wenn Kapital Angst hat

Deutsche Investoren sind höflich. Sie hören zu, sie nicken, sie danken für den Pitch - und investieren dann lieber in Immobilien.

Das ist kein Klischee, das ist Statistik.
In den USA liegt der Anteil von Venture Capital bei rund 0,9 %des BIP, in der EU bei 0,3 % (IMF, 2024).
Private Anleger dürfen kaum in Start-ups investieren, Pensionsfonds gar nicht. Selbst öffentliche Förderungen werden über Programme verteilt, die Monate dauern.

In Deutschland ist Kapital ein Zuschauer, kein Spieler.

Und wenn ein Gründer doch eine Finanzierung bekommt, muss er nachweisen, dass er schon fast profitabel ist.
Das ist, als würde man einem Kind erlauben zu schwimmen - aber nur, wenn es schon laufen kann.

Die Kultur der Kontrolle

Alles, was wir tun, wird begleitet von Formularen, Richtlinien, Nachweisen. Das wäre erträglich, wenn es wenigstens konsistent wäre.
Aber in Deutschland hängt Erfolg oft vom Zufall ab: vom zuständigen Amt, vom Bundesland, vom Formularjahrgang.

Die Bürokratie ist kein Gegner der Innovation, sie ist ihr Parasit. Sie lebt von ihr – aber sie lähmt sie.

Und sie frisst Zeit.
Zeit, die ein Start-up nicht hat.
Denn während wir noch genehmigen, optimieren andere schon.

Wenn Arbeit sicherer ist als Freiheit

Unsere Arbeitskultur ist darauf programmiert, Risiken zu vermeiden. Man arbeitet sich hoch, nicht breit. Man bleibt, wo man ist, nicht weil man glücklich ist, sondern weil man sicher ist.

Das Ergebnis: In Deutschland sind nur rund 4,5 % der Beschäftigten Gründer oder Selbstständige – in den USA sind es über 9 %.

Das hat Folgen: weniger Innovation, weniger Wettbewerb, weniger Dynamik.
Aber vor allem weniger Stolz auf das eigene Schaffen.

Denn wer sich selbst etwas aufbaut, erfährt Selbstwirksamkeit.
Wer nur verwaltet, erlebt Fremdbestimmung.

Unsere Gesellschaft fördert das Gegenteil von Unternehmergeist - und wundert sich dann über die Stagnation.

Robotik: Der verpasste Zukunftszug

Robotik war einmal ein deutsches Aushängeschild.
Heute kommen 73 % aller neuen Industrieroboter aus Asien (IFR, 2023). Europa? 15 %. Deutschland? Ein Prozent weniger als im Vorjahr.

Wir erfinden, aber wir verlieren.

KUKA war ein Symbol für das, was möglich ist - und für das, was schiefgeht.
Verkauft an China. Dabei sitzen die Experten noch hier. Das Wissen, das Können, die Netzwerke.
Nur das Kapital, das Vertrauen, das Wollen - das ist woanders.

Der VDMA schreibt in seinem Strategiepapier: „Europa steht vor dem Verlust seiner industriellen Kettenkompetenz.“
Das ist der akademische Ausdruck für: Wir fallen raus aus dem Spiel.

Geld – das letzte Tabu

In Deutschland spricht man nicht über Geld. Man spart es, man hortet es, man schützt es. Aber man bewegt es nicht.

Nur 18 % der Deutschen besitzen Aktien. In den USA sind es über 60 % (Deutsche Börse AG 2024). Das ist keine Kleinigkeit, das ist ein Kulturunterschied.

Wir haben gelernt, dass Arbeit edel ist – und Kapital verdächtig. Doch Kapital ist nichts anderes als Energie. Wer sie lenken kann, lenkt Zukunft.

Ein Bürgerfonds, ein staatlich unterstützter Beteiligungspool, eine echte Mitarbeiterbeteiligungskultur - das wären Schritte, die Kapital in Bewegung bringen. Aber dafür braucht es etwas, das uns selten gelingt: Vertrauen.

Was wir eigentlich können

Die gute Nachricht ist: Wir müssen nicht Amerika kopieren.
Wir müssen uns nur erinnern.

An unsere Stärken: Gründlichkeit, Präzision, Effizienz, Prozessdenken.
Das ist nicht sexy, aber stabil.
Und wenn man diese Stabilität mit Geschwindigkeit verbindet, entsteht ein Modell, das global funktioniert.

Rocket Internet hat es vorgemacht. Sie waren keine Visionäre, sie waren Systembauer.
“In the internet industry, there are Einsteins and there are Bob the Builders. I’m a Bob the Builder.” ( Oliver Samwer, The Hustle. 2016).

Prozessdenken, Präzision und Effizienz gelten nicht nur innerhalb bestehender Unternehmen, sie sind auch eine gute Blaupause für die Umsetzung von einer Idee in eine Unternehmung. Mit dem richtigen Mindset wird bei einer Gründung aus einer Odyssee ein Puzzle-Spiel.

Das klingt bescheiden - ist aber revolutionär. Denn wer Prozesse baut, die Innovationen beschleunigen, statt sie zu blockieren, schafft nachhaltige Wertschöpfung.

Das könnte der europäische Weg sein:
Nicht der wilde Kapitalismus, sondern die lernende Organisation. Nicht „fail fast“, sondern „learn fast“. Nicht Chaos, sondern kluge Kooperation.

Das neue Narrativ

Vielleicht ist das, was wir brauchen, kein neues Gesetz, sondern eine neue Geschichte. Ein Narrativ, das wieder Mut macht.
Eines, das sagt: Wir sind nicht zu spät - wir sind dran.

Innovation darf wieder Ehre haben.
Unternehmertum darf wieder gesellschaftlich angesehen sein.
Scheitern darf als Lernprozess gelten.

Wir müssen nicht den Zweifel ablegen - wir müssen ihn führen. Denn Zweifel ist kein Feind, sondern ein Kompass.
Er zeigt uns, wo wir uns unsicher sind - und genau dort beginnt Fortschritt.

Deutschland braucht keine Silicon Valleys. Es braucht Vertrauen in sich selbst. Und eine Kultur, die wieder wagt.

Schluss: Vom Dauerzweifler zum Möglichmacher

Vielleicht ist es Zeit, dass wir uns an etwas erinnern, das wir immer schon konnten:
Bauen. Erfinden. Machen.

Wir haben die Ideen. Wir haben das Wissen. Uns fehlt nur der Glaube, dass es reicht.

Aber was wäre, wenn wir wieder anfangen würden - einfach zu machen?
Nicht perfekt, nicht sicher, nicht genehmigt - sondern mutig.

Dann wäre Deutschland vielleicht bald wieder das, was es schon einmal war:
Ein Land, das Zukunft erfindet und gestaltet.
Nicht, weil es keine Zweifel hat - sondern weil es sie überwindet.

Weitere Informationen

 

 

Written By Bernd Wiest

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