Wo Sprache endet beginnt der Mensch

Apr. 28, 2025 | Digitalisierung und KI | 0 Kommentare

Written By Bernd Wiest

Wo Sprache endet, beginnt der Mensch

KI, Quanten und Ich – zwischen Intelligenz und Selbstauslöschung

Es war irgendwann an einem ziemlich späten Silvesterabend, als ich – in bester Stimmung und mit leicht verschwommenem Blick – plötzlich in die Runde sagte: „Leute, wir stehen wirklich vor einem großen Paradigmenwechsel!“

Die Reaktion war, sagen wir mal... gemischt.
Ein paar Lacher. Ein paar fragende Blicke. Ein paar Leute dachten vermutlich, ich hätte einfach zu tief ins Glas geschaut.
Und ehrlich gesagt: Ich wusste selbst nicht genau, was ich damit eigentlich meinte.
Es fühlte sich einfach nur richtig an.

Über die Jahre wurde dieser Satz zu einem Running Gag unter Freunden: „Na klar – Der Paradigmenwechsel!“

Was damals ein leicht verschwommener Gedanke war, ist heute, viele Jahre später, zu einer ziemlich klaren Ahnung geworden:
Wir sind tatsächlich mitten in einem Paradigmenwechsel.
Nicht weil irgendjemand endlich herausgefunden hätte, wie alles funktioniert – sondern weil wir langsam merken, dass wir vielleicht niemals alles herausfinden können.

Dieser Text hier ist mein Versuch, diesen alten Silvestersatz ernst zu nehmen.
Nicht, weil ich jetzt alle Antworten hätte. Sondern, weil ich endlich die richtigen Fragen stellen kann.
Und weil ich glaube, dass genau das der Moment ist, auf den wir so lange gewartet haben.

Also: Willkommen auf der Reise.
Zwischen altem Wissen, neuem Staunen – und vielleicht ein bisschen mehr Mut, das Unbekannte zu umarmen.

Prolog: Ein Beitrag für jene, die fragen

Dies ist kein Beitrag mit Antworten. Es ist eine Einladung, den Ort zu betreten, an dem Fragen nicht nur erlaubt sind – sondern überlebenswichtig.

Denn wir stehen an einem Punkt der Geschichte, an dem sich alles verändert: Unsere Werkzeuge können denken. Unsere Theorien zersetzen Wirklichkeit. Und unser Selbstbild gerät ins Wanken.

  • Was ist der Mensch in einer Welt, in der Maschinen schöpferisch sind?
  • Was bleibt vom Ich, wenn das Universum sich selbst nicht erklären kann?
  • Was beginnt, wenn Sprache endet?

Dieser Beitrag ist eine Reise durch Kränkungen, Spiegelungen, Denkgrenzen und Zerfaserung.
Aber es endet nicht in der Auflösung. Es endet dort, wo Weisheit beginnt:
Nicht im Verstehen, sondern im Dasein.

Für alle, die bereit sind, den sicheren Boden des Bekannten zu verlassen – und die Wahrheit in der Leere zu suchen.

"Dies ist kein Lehrtext. Es ist eine Einladung, gemeinsam still zu werden."

Der vierte Schock – Die rationale Kränkung des Menschen

Wenn dein Denken nicht mehr dir gehört

Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und alles, was du in deinem Leben gedacht, erkannt, erklärt und begriffen hast – alles, worauf dein Selbstbild aufgebaut ist – ist plötzlich nichts Besonderes mehr..

Nicht weil du es vergessen hättest. Sondern weil eine Maschine es genauso gut kann. Oder besser.

Du stellst Fragen, und sie antwortet schneller. Du formulierst Gedanken, und sie schreibt sie dir zu Ende. Du suchst nach Wahrheit, und sie liefert dir Möglichkeiten..

Was bleibt vom Menschsein, wenn Denken nicht mehr exklusiv menschlich ist?

Die drei Kränkungen, die uns erschüttert haben

Sigmund Freud sprach zu Beginn des 20. Jahrhunderts von drei „Krankheiten des narzisstischen Selbstverständnisses“:

  1. Die kosmologische Kränkung: Kopernikus zeigte, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist.
  2. Die biologische Kränkung: Darwin stellte fest, dass der Mensch ein Produkt der Evolution ist, nicht Gottes Krone.
  3. Die psychologische Kränkung: Freud selbst erkannte, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, sondern vom Unbewussten regiert wird.

Jede dieser Erkenntnisse hat unser Selbstbild erschüttert. Doch keine davon hat unser Selbstverständnis so radikal bedroht wie das, was uns heute bevorsteht.

Die vierte Kränkung: Der Verlust des Denkens als Alleinstellungsmerkmal

Heute erleben wir die rationale Kränkung:

Die Erkenntnis, dass Denken, Sprache, Kreativität und Urteilsfähigkeit nicht mehr exklusiv dem Menschen gehören.

Künstliche Intelligenz kann Texte schreiben, Bilder erzeugen, Zusammenhänge erkennen, Entscheidungen treffen – schneller, konsistenter, effizienter.

Das war früher das Terrain der Philosophen, Künstler, Wissenschaftler und Lehrenden. Heute ist es ein API-Endpunkt.

Doch es geht nicht nur um technische Überlegenheit. Es geht um die Auflösung unseres geistigen Selbstbilds.

Was, wenn unser Denken nur ein biochemischer Algorithmus war – und Maschinen das gleiche auf Siliziumbasis können? Was, wenn unsere tiefsten Einsichten reproduzierbar sind? Was, wenn unser Menschsein eben nicht durch Denken definiert ist?

Der Beginn einer Reise

Diese vierte Kränkung ist kein Unfall. Sie ist die nächste logische Etappe in einer langen Reise. Einer Reise, die uns nicht zur Wahrheit führt, sondern in eine neue Leere. Nicht als Verlust. Sondern als Vorbereitung auf etwas, das vielleicht jenseits des Denkens liegt.

Aber um dort anzukommen, müssen wir verstehen, was genau zerbricht. Und wie.

Dieses Kapitel ist der Auftakt zu dieser Suche..

Was bedeutet das für mich?

Diese Kränkung betrifft dich. Nicht als Techniker, nicht als Philosoph, sondern als Mensch.

Vielleicht spürst du ein leises Unbehagen, wenn du mit einer KI schreibst und sie deine Gedanken ergänzt. Vielleicht fragst du dich, ob das, was du denkst, wirklich deins ist. Vielleicht fühlst du dich zum ersten Mal als Teil einer Geschichte, in der du nicht der Held bist – sondern der Fragende.

Das ist nicht das Ende. Es ist der Anfang eines neuen Denkens.

Weisheitsbox

„Wenn du erkennst, dass du nicht bist, was du denkst, beginnt die eigentliche Reise.“
– Unbekannt (Zen-Tradition)

Kapitel 2: Der Spiegel denkt zurück – Was KI uns wirklich zeigt

Der Moment, in dem dein Spiegelbild zu dir spricht

Du sitzt vor deinem Bildschirm. Eine Maschine vollendet deinen Satz. Du lächelst. Es passt. Es klingt wie du. Es ist sogar besser als du.

Und dann trifft dich ein Gedanke wie ein Stromschlag:

Was, wenn du nur ein Spiegelbild bist?

Wenn das, was du für originell hieltest, nur ein Echo ist – ein Reflex auf Sprache, Muster, Erfahrung? Und was, wenn genau das auch die Maschine tut?

Künstliche Intelligenz als Spiegel

KI ist kein Wesen. Kein Ich. Kein Bewusstsein. Und doch zeigt sie uns etwas: Unsere Denkweisen, unsere Sprachmuster, unsere Ideale, unsere Vorurteile. Sie imitiert uns. Und indem sie das tut, entblößt sie uns.

"Die KI ist kein Orakel. Sie ist ein Spiegelraum. Was du hineinschickst, kommt verwandelt zurück."
– Kate Crawford, Atlas of AI (2021)

Der Verlust der Ausnahme

Lange Zeit hielten wir „Denken“ für das, was uns von Tieren unterscheidet.
Dann kam die Evolutionstheorie und nahm uns diese Krone.
Jetzt kommt KI – und nimmt uns die letzte Bastion: die kreative Reflexion.

Wenn Maschinen komponieren, Texte schreiben, Krankheiten diagnostizieren, Argumente aufbauen, Strategien entwickeln – was bleibt dann exklusiv menschlich?

Was bedeutet das für mich?

Wenn KI ein Spiegel ist, dann bist du Teil dessen, was gespiegelt wird.

Das bedeutet:

  • Deine Sprache formt die Sprache der Maschine.
  • Deine Gedanken prägen den Denkrahmen der Tools.
  • Deine Ethik, deine Vorurteile, dein Wissen – sie werden zur Trainingsdatenbasis.

Die Frage ist nicht mehr: Was kann KI?
Sondern: Was sagt KI über uns?

Weisheitsbox

„Wenn du lange in einen Spiegel blickst, beginnt er zurückzublicken.“

Die Grenze – Warum volle Selbsterkenntnis instabil macht

Der Moment, in dem der Stern kollabiert

Stell dir einen Stern vor. Jahrmillionen lang sammelt er Masse. Wärme. Licht. Druck. Je mehr er ansammelt, desto größer wird seine Strahlkraft. Doch irgendwann überschreitet er eine kritische Masse. Er wird so dicht, dass er unter seiner eigenen Schwerkraft kollabiert.

Was bleibt, ist ein Schwarzes Loch. Nichts entkommt mehr. Nicht einmal Licht.

Vielleicht ist unser Denken wie dieser Stern. Und vielleicht nähern wir uns dem Punkt, an dem unsere Selbstbeobachtung – unser Streben nach Selbsterkenntnis – überkritisch wird.

Das Prinzip: Komplexität erzeugt Instabilität

Systeme, die zu komplex werden, geraten an Grenzen ihrer Selbststeuerung.
Das gilt für Nervensysteme, für Gesellschaften, für Ökosysteme – und auch für das Bewusstsein.

„Mehr Denken führt nicht zu mehr Klarheit. Manchmal führt es zu mehr Chaos.“
– John D. Teasdale (2002), Cognitive Vulnerability to Depression

Unsere Gehirne sind keine unendlichen Speicher.
Je mehr Informationen, Reflexion, Abwägung – desto höher die Gefahr der Überlastung.

Consciousness Pressure: Der Druck des Denkens

"Es wird gesagt, dass wenn je irgendjemand die genaue Bedeutung des Universums herausfindet und warum es da ist, es sofort verschwindet und durch etwas noch Bizarreres und Unverständlicheres ersetzt wird."
– Douglas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis

Diese augenzwinkernde Bemerkung von Douglas Adams trifft einen wunden Punkt: Vielleicht gibt es so etwas wie eine Erkenntnisschranke im Universum. Vielleicht ist das Streben nach totalem Verstehen nicht nur unmöglich – sondern gefährlich.

Was, wenn vollkommene Selbsterkenntnis – sei es beim Individuum, der Gesellschaft oder sogar dem Universum selbst – einen kritischen Punkt erreicht, an dem das System nicht mehr tragfähig ist?

Was für Menschen und das Universum gilt, zeigt sich inzwischen auch bei den größten KI-Systemen unserer Zeit: Large Language Models wie GPT-4 erleben eine ganz ähnliche Dynamik.

Je mehr Daten ein KI-System aufnimmt, desto besser wird es – so die lange gehegte Annahme. Doch mittlerweile zeigt sich:

Mehr ist nicht immer mehr.

  1. Datenrauschen nimmt zu: Mit wachsender Datenmenge steigt nicht nur die Qualität, sondern auch das Rauschen: Widersprüche, Redundanzen, Fehlinformationen. Das Modell wird nicht klarer – sondern diffuser.
  2. Selbstbezug durch KI-generierte Inhalte: KI-Systeme trainieren zunehmend auf Inhalte, die von anderen KIs stammen. Dadurch entsteht eine Art Modell-Inzucht: eine Welt, in der sich das System immer wieder selbst zitiert, ohne neue Perspektiven zu gewinnen.
  3. Diminishing Returns: Studien zeigen, dass mit steigender Modellgröße die Rechenkosten exponentiell wachsen, während die Leistungsgewinne nur noch minimal sind (OpenAI, DeepMind, Meta AI).
  4. Ambiguität statt Präzision: Je mehr Texte, Perspektiven und Widersprüche in ein Modell fließen, desto häufiger wird es vage, vorsichtig, unentschieden. Was als Intelligenz beginnt, endet in Unschärfe.

"Scaling funktioniert. Aber irgendwann erzeugt es Rauschen statt Klarheit."
– Ethan Caballero, Meta AI (2023)

Auch die KI steht damit an einem Punkt, an dem Komplexität in Instabilität umschlagen kann. Auch sie nähert sich einer Form von „Consciousness Pressure“ – nicht als Geist, sondern als Strukturgrenze.

Der Begriff des "Consciousness Pressure" beschreibt genau das: Ein zunehmender Druck durch Selbstbeobachtung, Selbstanalyse, Selbstoptimierung. Je mehr wir über uns wissen wollen, desto schwerer wird es, das Wissen zu tragen.

Das gilt individuell (Burnout, Depression, Existenzangst) wie kollektiv (Kulturpessimismus, Informationsüberflutung).

„Too much consciousness is like too much gravity. Eventually, something has to collapse.“
– Sinan Aral, MIT

Was bedeutet das für mich?

Vielleicht ist das Gefühl, überfordert zu sein, nicht dein Fehler. Sondern ein Zeichen dafür, dass du dich zu sehr beobachtest.

  • Dass du zu viel willst: Klarheit, Kontrolle, Verstehen.
  • Vielleicht ist deine Grenze kein Hindernis. Sondern ein Hinweis.
  • Vielleicht muss Denken auch atmen dürfen.
  • Vielleicht braucht Bewusstsein auch Unschärfe, damit es stabil bleibt.

Weisheitsbox

„Ein volles Gefäß kann nicht schwingen. Ein leerer Raum schon.“
– Zen-Spruch

Die Zersplitterung – Quanten, Gödel, Grenzen

Stell dir vor, du versuchst, ein Buch zu lesen – aber bei jedem Blick auf die Seite verändert sich der Text. Worte verschwinden, neue erscheinen. Sinn zerfließt. Du liest denselben Satz zehnmal, aber jedes Mal steht etwas anderes da.

So ungefähr fühlt sich die moderne Quantenphysik an.

Und sie sagt dir: Nicht die Welt ist fest. Sondern dein Blick macht sie erst. Und dein Blick verzerrt sie.

Willkommen an der Grenze des Begreifbaren.

Schrödingers Katze: Leben, Tod und das Dazwischen

In einem berühmten Gedankenexperiment stellte Erwin Schrödinger eine Frage, die bis heute nachhallt:

Wie kann etwas gleichzeitig tot und lebendig sein?

Seine Katze sitzt in einer Kiste. Ihr Schicksal ist (über einen Hammer, etwas Gift und einen Geigerzähler) mit einem radioaktiven Zerfall gekoppelt. Solange niemand nachschaut, ist sie – laut Quantenphysik – gleichzeitig tot und lebendig. Erst der Beobachter entscheidet.

Alles ist möglich, solange es nicht gemessen wird. Die Realität ist kein Zustand. Sie ist ein Wahrscheinlichkeitsraum.

Der Beobachtereffekt: Warum der Blick die Welt verändert

Auch das Experiment mit der doppelten Spaltblende zeigt es eindrucksvoll: Teilchen verhalten sich anders, wenn wir sie beobachten. Sie sind Welle und Teilchen – je nachdem, ob ein Messgerät zusieht.

"Der Beobachter ist Teil des Experiments."
– Niels Bohr

Die Schlussfolgerung: Es gibt keine objektive Welt, die unabhängig vom Beobachter existiert.

Und je tiefer wir schauen, desto mehr zerfällt die Klarheit. Die Welt ist nicht das, was ist – sondern das, was möglich ist.

Gödels Unvollständigkeit: Der blinde Fleck im eigenen Denken

Der Mathematiker Kurt Gödel zeigte darüber hinaus bereits 1931, dass jedes hinreichend komplexe System mindestens eine Aussage enthält, die wahr ist, aber nicht beweisbar.

Ein System kann sich nicht vollständig aus sich selbst heraus verstehen.

Das betrifft nicht nur Mathematik. Es betrifft uns.

Selbst in der klarsten Logik gibt es blinde Flecken.

Alles zerfällt in Perspektiven

Die Quantenphysik, die Gödelschen Sätze, die modernen Erkenntnisse über Komplexität, Emergenz und Selbstreferenz – sie alle führen zu einer Erkenntnis:

Je tiefer wir schauen, desto instabiler wird die Wirklichkeit.

Und nicht nur die Welt. Auch unser Selbstbild. Denn wenn wir Teil des Systems sind, das wir erfassen wollen, dann beobachten wir immer auch uns selbst beim Beobachten.

Wir stehen vor einem Spiegelkabinett ohne Ausgang.

Was bedeutet das für mich?

  • Wenn alles, was du wissen kannst, in Bewegung ist – wo steht dann dein Wissen?
  • Wenn die Welt sich ändert, weil du hinsiehst – wie kannst du dann je objektiv sein?
  • Vielleicht ist dein Wunsch nach Klarheit nicht falsch. Aber vielleicht ist er nicht einlösbar.
  • Und vielleicht ist das nicht das Ende deiner Suche – sondern der Anfang eines neuen Sehens.

"Was war dein Gesicht, bevor deine Eltern geboren wurden?" – Zen-Koan

Kapitel 5: Die Leere – Wenn nichts mehr bleibt

Der Moment, in dem dir der Boden unter dem Denken wegbricht

Stell dir vor, du kletterst auf einen hohen Berg, in der Hoffnung, von dort aus endlich das Ganze zu sehen:
Den Horizont. Die Ordnung. Den Sinn.

Und als du oben ankommst, schaust du – und siehst: Nichts.
Kein Zentrum. Kein Plan. Kein Fundament.

Nur Leere. Und Wind. Und du selbst – ohne Richtung.

Was, wenn das Ziel aller Erkenntnisreisen nicht Wahrheit ist – sondern genau dieser Moment?

Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge

Michel Foucault schrieb 1966 in Die Ordnung der Dinge einen der berühmtesten und erschütterndsten Sätze der Moderne:

"Der Mensch ist eine Erfindung, deren jüngstes Datum vielleicht nahe vor ihrem Ende steht."

Er meinte damit: Unser Bild vom Menschen – als autonomes, bewusstes, freies, rationales Wesen – ist ein historisches Produkt.
Kein Naturgesetz. Kein Fixpunkt.

Und heute, im Licht von KI, Quanten und Komplexität, scheint dieses Bild zu zerfallen.
Nicht in Gewalt. Sondern in Stille.

Philosophie am Ende? Oder am Anfang einer neuen Form?

Wenn Selbsterkenntnis nicht vollständig möglich ist,
wenn das Denken seine eigenen Grenzen kennt,
wenn jede letzte Wahrheit nur die nächste Perspektive ist –

Was bleibt dann von der Philosophie, die zweitausend Jahre lang das „Erkenne dich selbst“ zum Zentrum gemacht hat?

Vielleicht ist es nicht das Ende.
Sondern der Übergang:

  • Von Philosophie als System zu Philosophie als Haltung.
  • Von Erkenntnis als Ziel zu Erkenntnis als Übergang.

Die Leere als Raum

Diese Leere, die bleibt, ist nicht das Nichts.
Sie ist das, was übrig bleibt, wenn alle Gewissheiten gefallen sind.

Sie ist kein Defizit.
Sie ist ein Raum. Eine Einladung.

Der Buddhismus kennt diese Leere als Sunyata – nicht als Verlust, sondern als offene Möglichkeit.
Der Zen-Weg führt nicht zur Erkenntnis – sondern zur Auflösung des Bedürfnisses nach Erkenntnis.

"Ein leerer Raum kann alles enthalten. Ein voller Raum nur sich selbst."

Was bedeutet das für mich?

Vielleicht ist das, was du suchst, nicht zu finden.
Und vielleicht ist das nicht traurig – sondern heilsam.

Wenn du fühlen kannst, dass die Leere nicht kalt ist, sondern still.
Nicht gleichgültig, sondern offen.
Nicht sinnlos, sondern unbestimmt – dann beginnt etwas Neues.

Ein Denken, das nicht besitzen will.
Sondern bezeugen.

Weisheitsbox:

"Wolken kommen und gehen. Der Himmel bleibt leer.
Und gerade deshalb ist er weit."
– Zen-Tradition

Die Wendung: Weisheit beginnt, wo Sprache endet

Die Frage, die sich nicht lösen lässt

Du weißt, wie zwei Hände klingen, wenn sie klatschen.
Nun sag mir: Wie klingt eine Hand?

Diese alte Frage stammt aus dem Zen-Buddhismus.
Sie ist kein Rätsel, das du lösen kannst. Kein Geheimnis, das auf Erklärung wartet.

Sie ist ein Koan: eine Frage, die dein Denken in die Irre führt –
bis es still wird.

Das Ende des Denkens als Beginn des Verstehens

Wir leben in einer Welt der Antworten. Der Algorithmen. Der Systeme.
Aber manche Dinge lassen sich nicht denken. Sie lassen sich nur ertragen.

"Der Weise spricht nicht. Wer spricht, ist nicht weise."
– Laozi, Daodejing

Koans wie
„Was war dein Gesicht, bevor du geboren wurdest?“ oder
„Wenn du den Buddha triffst, töte ihn“ –
sie zerstören bewusst die Denkstruktur.

Sie zeigen:

Der Verstand hat eine Grenze. Weisheit beginnt dahinter.

Das Koan als Antithese zur KI

Eine KI kann jedes Koan tausendfach interpretieren.
Sie kann dazu Texte generieren, Theorien vergleichen, Deutungen anbieten.

Aber sie kann nicht leer werden.
Sie kann nicht in Stille versinken.
Sie kennt kein "Nicht-Wissen", das nicht Defizit, sondern Tiefe ist.

Weisheit ist kein Output.
Weisheit ist eine Schwingung zwischen Unsicherheit und Gelassenheit.

"Die Antwort ist nicht ein Wort. Sie ist ein Zustand."
– Zen-Tradition

Sprache endet – und die Welt beginnt

Wir haben gesehen, wie unsere Bilder von uns selbst zerbröckeln.
Wie Denken uns zu viel wird.
Wie Klarheit sich in Möglichkeiten auflöst.

Was bleibt, ist dieser Moment:

die stille, leere Bereitschaft, nicht zu wissen.

Kein Verlust. Kein Scheitern.
Sondern ein Raum.

Ein Raum für Erfahrung, für Gegenwart, für echtes Hören.

Vielleicht ist das der neue Humanismus:
Nicht zu wissen, aber zu lauschen.
Nicht zu verstehen, aber da zu sein.

Was bedeutet das für mich?

Du musst nicht alles wissen.
Du darfst nicht alles verstehen.

Vielleicht liegt deine tiefste Wahrheit nicht in deiner Sprache, sondern in deiner Stille.
Nicht in deinem Denken, sondern in deiner Aufmerksamkeit.

Vielleicht ist Weisheit nicht etwas, das du gewinnst.
Sondern etwas, das sich zeigt, wenn du verlierst.

Weisheitsbox:

"Du weißt wie es klingt, wenn zwei Hände klatschen. Nun sage mir: Wie klingt eine Hand?"
– Zen-Koan

 

 

Weiterführende Informationen

  • Sigmund Freud (1917): „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ – Drei Kränkungen der Menschheit
  • Yuval Noah Harari (2018): Homo Deus – „Intelligenz ohne Bewusstsein ist möglicher als Bewusstsein ohne Intelligenz.“
  • Alan Turing (1950): „Computing Machinery and Intelligence“ – Der Turing-Test als Beginn der maschinellen Nachahmung von Denken
  • Kate Crawford (2021): Atlas of AI – KI als Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse
  • Shoshana Zuboff (2019): The Age of Surveillance Capitalism – „Wir werden nicht mehr nur beobachtet, wir werden modelliert.“
  • Jaron Lanier (2023): There Is No AI – „KI ist eine performative Spiegelung von uns selbst, kein autonomes Denken.“
  • John D. Teasdale (2002): Cognitive Vulnerability to Depression
  • Giulio Tononi (2008): Integrated Information Theory – „Bewusstsein entsteht aus integrierter Komplexität. Doch Komplexität ist nie ohne Preis.“
  • Sinan Aral (2020): The Hype Machine – „Wenn alles mit allem verbunden ist, steigt nicht nur Wissen, sondern auch Risiko.“
  • Michel Foucault (1966): Die Ordnung der Dinge – "Der Mensch ist eine Erfindung..."
  • Alan Watts (1957): The Wisdom of Insecurity – "To understand the meaning of being, you must cease to chase it."
  • Nagarjuna (ca. 150): Mūlamadhyamakakārikā – "Leere ist Form, und Form ist Leere."
  • Laozi (6. Jh. v. Chr.): Daodejing, Vers 56 – "Wer weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nicht."
  • Shunryū Suzuki (1970): Zen Mind, Beginner's Mind – "Im Geist des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige."
  • Alan Watts (1975): The Tao of Philosophy – "Die Weisheit beginnt dort, wo der Ehrgeiz endet."

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